Die zwei Schwestern (Österreich)

In einem Dorf lebte eine Frau, die bei allen Nachbarn bekannt war wegen ihrer Hartherzigkeit. Sie hatte zwei Töchter, von denen die ältere genauso war wie die Mutter. Die jüngere Tochter jedoch war im ganzen Dorf beliebt wegen ihrer Freundlichkeit und ihrem Fleiss. Die Mutter und Schwester mochten sie jedoch ganz und gar nicht und plagten sie, wo sie nur konnten. Die Mutter wollte sie gar loswerden und schickte sie in fremden Dienst. Trotz der Leiden, die sie zu Hause ertragen musste, fiel es ihr schwer, sich von der Familie zu trennen. Aber alles Flehen nützte nichts. Der Entschluss der Mutter stand fest, und dazu musste sie noch den Spott ihrer prunksüchtigen Schwester erdulden. Da nahm sie schliesslich ihr Bündel und ging schluchzend und weinend fort.

 

Sie wanderte lange und kam zu einem Backofen, der ganz zersprungen und zerfallen war. Als sie dies sah, holte sie, wie sie es von zu Hause gewohnt war, Lehm und Wasser, und flickte den Ofen, bis er wieder wie neu war,

 

Sie wanderte weiter und kam zu einem Brunnen, aus dem kein Wasser mehr floss. Sogleich säuberte und reinigte sie den Brunnen, sodass das Wasser wieder frisch fliessen konnte.

 

Als sie weiterkam, kam sie zu einem Birnbaum und einem Apfelbaum, deren Wurzeln waren ohne Erde und die Blätter völlig vertrocknet. Da nahm sie Erde und deckte die Wurzeln damit zu. Danach holte sie Wasser aus einem Teich und begoss die Wurzeln.

 

Das Mädchen wanderte weiter und kam zu einer Hütte, in der ein altes Mütterchen wohnte. Es fragte, ob es in ihren Dienst treten könnte. Das Mütterchen überlegte eine Weile und meinte dann: «Gut, du kannst in meinen Dienst treten, aber du darfst die Töpfe, die im Zimmer stehen, niemals berühren, und du musst den leichten Staub in eine alte Kiste füllen und den groben Staub in eine neue Kiste.»

 

Das Mädchen war mit allem einverstanden und trat bei dem Mütterchen in den Dienst. Es gab nur wenig zu essen und das Wenige teilte es mit einem Kätzchen und einem Hündchen, die bei der Alten wohnten. Die beiden Tiere waren dem Mädchen schon bald sehr zugetan und als auch die Alte sah, dass alles nach ihren Wünschen geschah, übertrug sie dem Mädchen die Obhut über das Haus und beschloss eine kleine Reise zu machen.

 

Als sie fort war, hörte das Mädchen in der ersten Nacht an der Tür ein lautes Kratzen und Schreien, sodass es nicht wusste, ob es öffnen sollte oder nicht. Als Mitternacht vorüber war, hörte der Lärm auf einmal auf und es wurde wieder ruhig. Doch in der nächsten Nacht fing das Kratzen und Schreien wiede an und von nun an ging es jede Nacht so. Die Alte aber kam gar nicht mehr wieder zurück und es beschloss in seiner Angst, wieder zur Mutter zurückzukehren und das Hündchen und das Kätzchen mitzunehmen. Doch die beiden Tiere wollten nicht mit ihm gehen, ja, sie schienen es daran hindern zu wollen, das Haus zu verlassen. So blieb das Mädchen im Haus und eines Tages kehrte auch die Alte wieder heim. Sie freute sich darüber, wie gut das Mädchen zu Haus und Tieren geschaut hatte und fragte es: «Nun sag mir Mädchen, möchtest du weiter bei mir im Dienst sein oder nach Hause zu deiner Mutter zurückkehren?»

 

Das Mädchen wollte gerne wieder seine Familie sehen und so packte es sein Bündel und wollte sich auf den Heimweg machen. Die Alte aber führte es in die Kammer, wo die Töpfe standen und sprach: «Ich kann dir nichts geben, als das, was du dir gesammelt hast; sieh her, hier sind die zwei Kisten, wähle dir entweder die alte oder die neue.»

 

Das Mädchen nahm die alte Kiste, da es dachte, es sei einerlei, ob man die eine oder die andere nehme, denn in beiden befand sich nichts anderes als Staub. Doch während die Alte die Kammer verliess, hob das Mädchen neugierig die Deckel der Töpfe, da flogen arme Seelen daraus empor, die ihm freudig dankten, da sie nun erlöst waren. Schnell schloss das Mädchen wieder alle Töpfe, nahm das Hündchen, das Kätzchen und die Kiste mit und machte sich auf den Heimweg.

 

 Kaum war die junge Frau fort, da bemerkte die Alte, dass die Töpfe leer waren und sie eilte ihr nach. Doch als sie ihr schon nahe war, tat sich auf einemal eine Schlucht auf und die Alte konnte nicht hinüber. Schnell suchte sie sich einen anderen Weg und als sie die junge Frau fast eingeholt hatte, da wuchs auf ienmal ein dichtes Dornengebüsch, das sie nicht hindurchliess. Da gab die Alte auf und kehrte erschöpft nach Hause zurück. Die junge Frau aber kam auf dem Rückweg am Apfelbaum und am Birnbaum vorbei und sie sprach leise zu beiden:

 

«Bäumchen, ich habe euch gepflegt, gebt mir von euren Früchten.»

 

Da raschelte der Wind in den Zweigen und einige Früchte fielen herab. Sie ass nun ein paar und stärkte sich, die anderen las sie auf und legte sie in die Kiste.

 

Auf ihrem weiteren Weg kam sie zum Brunnen und sie sprach:

 

«Brünnchen, ich habe dich gesäubert, gib mir von deinem Wasser.»

 

Da floss aus dem Brunnen purer Wein, und sie trank und stärkte sich daran. Bald kam sie zum Backofen, in dem ein Feuer zu brennen schien, und sie sagte:

 

«Backofen, ich habe dich wieder ganz gemacht, schenk mir von deinem duftenden Brot.»

 

Dann öffnete sie die Ofentür und darin waren herrliche Brote. Sie teilte ein Brot mit dem Hündchen und der Katze und als sich alle satt gegessen hatten, nahm sie noch eins mit und legte es in die Kiste.

 

Schon bald kam sie zu ihrem Vaterhaus und erzählte alles, was sie erlebt hatte. Doch als Mutter und Schwester sahen, was sie als Lohn heimbrachte, lachten sie und sagten: «Nun zeig uns doch den Staub, den du zum Lohn erhalten hast!»

 

Da öffnete sie die Kiste, doch darin war kein Staub, sondern lauter Gold und Silber. Auch die Birnen und Äpfel, sogar das Brot waren zu Gold geworden. Das Mädchen rief nach dem Hündchen und dem Kätzchen, doch statt dem Hündchen stand dort nun ein junger Prinz, und anstatt dem Kätzchen eine junge Prinzessin, die war die Schwester des Prinzen. Da war nun grosse Freude! Der Prinz vermählte sich mit der jungen Frau und zusammen mit seiner Schwester fuhren sie in die Heimat, wo deren Bräutigam schon wartete. Unter dem Jubel des Volkes wurden sie willkommen geheissen.

 

Viel Glück hier, viel Neid dort. Die Mutter der glücklichen Braut wurde vom Neid geplagt und bald schickte sie ihre Lieblingstochter los, damit auch diese sich auf die gleiche Art wie die ungeliebte Tochter Schätze und Glück suchen sollte. Die junge Frau wanderte denselben Weg, den auch ihre Schwester genommen hatte. Schon bald kam auch sie zu einem Backofen und dieser war alt und zerfallen, aber sie hatte keine Lust, sich die Finger mit Lehm zu beschmutzen, um den Ofen zu flicken. Sie ging weiter und kam zu einem Brunnen, der ganz verstopft und vertrocknet war, doch sie war sich zu fein, um ihn zu reinigen und auch am vertrockneten Apfelbaum und Birnbaum ging sie vorüber.

 

Endlich kam sie bei der Alten an, und diese nahm sie in ihren Dienst. Sie gab ihr die gleichen Aufgaben und gab ihr ein Hündchen und ein Kätzchen zur Pflege. Das hochmütige Mädchen wollte jedoch die mageren Mahlzeiten nicht mit den armen Tieren teilen und mit der Hausarbeit nahm es die Schwester nicht sonderlich genau. Mal warf sie den Staub fort, mal in die Kiste, sodass die Alte gar nicht zufrieden war. Da sie das Haus nicht in die Obhut der Schwester geben konnte, führte sie sie schon bald zu den beiden Kisten und sagte: «Hier, nimm dir, was du dir gesammelt hast, entweder die alte oder die neue Kiste.»

 

Die Schwester nahm die neue Kiste und ging samt dem Kätzchen und dem Hündchen fort. Als sie zum Apfelbaum und zum Birnbaum kam, rief sie:

 

«Bäume, gebt mir Früchte!»

 

Da fielen ein paar steinige Früchte zu Boden. Sie hob ein paar auf in der Hoffnung, dass sie zu Hause zu Gold werden würden. Als sie zum Brunnen kam, befahl sie:

 

«Brunnen, gib mir Wein.»

 

Doch aus dem Brunnen kam nichts als schlammiges Wasser. Sie füllte ein wenig in eine Flasche und hoffte, dass zu Hause Wein daraus würde.

 

Als sie zum Backofen kam, wartete dort schon die Mutter auf sie und die Tochter rief:

 

«Backofen, gib mir Brot!»

 

Doch im Backofen war nichts als heisse Glut. Da öffneten sie die Kiste, aber darın wimmelte es von Schlangen und Kröten, die sich auf die beiden stürzten. Das Kätzchen und das Hündchen jedoch verwandelten sich in Teufel, die die böse Schwester und die hartherzige Mutter gemeinsam in den Ofen stiessen.

 

So verschieden war das Schicksal der beiden Schwestern, die zwar auf demselben Weg, aber in ganz verschiedener Weise ihr Glück suchten.

 

Quelle: Fassung Djamila Jaenike, nach: T. Vernaleken, Kinder- und Hausmärchen in den Alpenländern, 1863


Dieses Märchern erinnert sehr an das bei uns bekannte von "Frau Holle". Auch hier geht das eine Mädchen seinen eigenen Weg und schafft es mit ihrer Selbstlosigkeit und ihrem Mitgefühl schlussendlich zum grossen Glück. Es ist ein Märchen, das reich ist an Bildern und Symbolen: Backofen, Brunnen, Bäume und nicht zuletzt die seltsame Alte oder die beiden Kisten, die zur Auswahl stehen.

 

Vielleicht könnte man nach diesem Märchen ja:

- Das Haus von Staub befreien :-)

- Ein Brot oder eine Apfelwähe backen

- Einen Birnenbaum setzen und dafür sorgen, dass die Wurzeln gut mit Erde bedeckt sind

- darüber sprechen, was die ältere Schwester bei einer zweiten Chance wohl anders machen würde

- Futter für Katzen und Hunde in einem Tierheim spenden / vorbei bringen

 

 

MärchenKoffer Nicole Krähenmann  | 8635 Dürnten ZH | brief@maerchenkoffer.ch