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Der Turm zu den Sternen (Baskenland)

Es war einmal ein König, der hatte lange Zeit vergeblich auf einen Erben gewartet. Da fragte er die Weisen des Landes, doch auch sie wussten keinen Rat. Zuletzt zog der König ins Gebirge zu einem Einsiedler. Der liess ihn zuerst eine lange Zeit schweigen. Dann gab er ihm eine Feige und eine Nuss und sprach: «Wenn deine Frau die Feige isst, so wird sie einen Sohn gebären, isst sie die Nuss, bekommt sie eine Tochter. Aber beides ist gefährlich. Dein Sohn wird mit achtzehn Jahren auf der Jagd sterben. Und wenn das Mädchen vierzehn Jahre ist, wird man sie euch rauben, es sei denn, du passt gut auf sie auf.» 

Der König dankte und zeigte seiner Frau daheim die beiden Früchte. «Besser ein Mädchen, das geraubt wird, als ein toter Sohn», sagte die Königin und ass die Nuss. 

 

Und nach neun Monaten bekam sie ihr Kind, ein allerliebstes Mädchen. 

Den König aber plagte die Sorge, das Mädchen könne ihm geraubt werden. Endlich beschloss er, sie in einen hohen Turm einzusperren, in einen Turm bis zu den Wolken und noch höher. Als der Turm so hoch war wie der höchste Baum, liess der König seine Tochter, ihre Dienerin und die Bauleute in den Turm bringen. Die Tür wurde zugemauert bis auf eine kleine Öffnung, durch die man Essen und Trinken reichen konnte. Steine zum Bauen jedoch hatte man dann nicht mehr. So fingen sie an, Steine aus dem Fels zu brechen. Je höher der Turm nach oben wuchs, desto tiefer führte nun eine Treppe hinab in den Fels. 

 

Drei Tage, ehe die Königstochter vierzehn Jahre alt wurde, sagte der Baumeister: «Prinzessin, der Turm reicht nun bis zu den Sternen. Höher können wir nicht bauen!» 

 

«Ich danke dir. Ich werde mit meiner Dienerin hinaufsteigen und dann werden wir weitersehen.» 

 

Als sie oben ankamen, da reichte der Turm bis zu den Sternen! Das Mädchen schwang sich über die Brüstung und ging auf den nächsten Stern zu. Dort war ein kleines Haus und sie klopfte an. Ein schöner Jüngling öffnete: «Wer bist du? Woher kommst du? Und was willst du?» 

 

«Ich bin eine Königstochter, und ich komme von jenem Turm dort, in den mich mein Vater gesperrt hat, und ich will in die Welt gehen. Und wer bist du?» 

 

«Ich bin der Morgenstern. Hier vom Himmel führt kein Weg in die Welt. Aber mein Bruder, der Abendstern, weiss vielleicht einen Rat. Warte, ehe du gehst, will ich dir etwas schenken. Nimm diesen silbernen Stein. Bist du einmal in Not, so reibe ihn, und ich werde kommen und dir helfen.» 

 

Sie dankte ihm und ging auf das nächste Haus zu. Auch der Abendstern wusste keinen Rat, schenkte ihr jedoch ebenfalls einen silbernen Stein und sagte: «Heute Nacht wird unsere Mutter, die Mondfrau, zwischen unseren Häusern hindurchgehen, die weiss vielleicht einen Weg.» 

Nun wartete die Königstochter, bis es am Nachthimmel heller wurde. Da sah sie die Mondfrau kommen. «Grossmutter, ich wünsche dir viel Glück!» 

 

«Wer bist du? Und woher kommst du, Töchterchen? Und was willst du?» 

 

«Ich bin eine Königstochter und ich komme von jenem Turme dort, in den mich mein Vater gesperrt hat, und ich möchte in die Welt gehen!» 

«Nun gut, wenn du das durchaus willst, dann zeig’ ich dir den Weg!». 

 

Sie sagte ihr genau, was sie zu tun hatte, und schenkte ihr dazu einen goldenen Stein und einen goldenen Hammer. 

Das Mädchen bedankte sich, und gemeinsam mit ihrer Dienerin stieg sie die Treppe hinab, tiefer und tiefer, bis zu einem grossen Stein. Die Königstochter schlug mit dem goldenen Hammer gegen ihn, und er öffnete sich. Sie traten in einen langen Gang, der war so finster, wie sie noch nie etwas erlebt hatten, doch der goldene Stein leuchtete ihnen. Endlich öffnete sie die Tür zur Kammer des grossen Drachen. Sie hob den Mondstein hoch und er schloss geblendet die Augen. 

 

Die beiden Mädchen liefen durch seine Kammer zur Tür auf der anderen Seite, eine Treppe hinauf und kamen zuletzt zu einer Stadt. Am Stadtrand stand ein kleines Häuschen, dort klopften sie an und wurden von einem alten Paar gut aufgenommen. 

In der Nacht aber, als sie schliefen, erwachte der Drache, und er erinnerte sich an die Schöne, die ihn geblendet hatte. «Wart nur! Dich krieg ich schon!» 

 

Er folgte den Spuren der Mädchen und erblickte die schlafende Königstochter durch ein offenes Fenster. Er öffnete leise die Tür. ergriff sie sanft und trug sie in seine Kammer. Als sie am Morgen erwachte, sagte er: «Hier kommst du nie wieder heraus, und du musst mich heiraten!» 

«Das werden wir ja sehen», sagte die Königstochter und rieb einen der silbernen Steine.

Und da stand der schöne, lichte Morgenstern und fragte: «Königstochter, du bist in Not?» 

 

«Ja, der Drache will mich nicht freilassen. und er will, dass ich ihn heirate!» 

 

«Drache, was verlangst du, dass du die Königstochter wieder freilässt?» 

 

«Wenn sie mich nicht heiraten will, so soll sie mir wenigstens den goldenen Stein geben, mit dem sie mich geblendet hat.» 

«Königstochter, gib ihm den Stein!» 

 

Seit jener Zeit findet sich Gold in den Tiefen der Erde. Der Morgenstern aber nahm die Königstochter bei der Hand und führte sie zurück zum Haus der beiden Alten, er selbst aber stieg wieder zum Himmel empor. 

Am Morgen erzählte der Alte: «Der Sohn unseres Königs wurde gefangen genommen, nun liegt er im Kerker in einem Schloss. Wer ihn befreit, dem hat unser König das halbe Reich versprochen.» 

 

«Geh, kaufe Männerkleider für mich, ich will ausziehen und sehen, ob ich den Königssohn befreien kann.» 

Und als die Königstochter sich umgezogen hatte, sah sie aus wie ein schmucker Bursche. An diesem Tage fuhr ein Schiff in jenes Land, in dem der Königssohn gefangen gehalten wurde. Sie gab dem Kapitän Geld und er nahm sie mit. 

 

In der Stadt herrschte grosser Jubel, weil man den Sohn des Königs gefangen hatte. Die Königstochter fand bald heraus, dass der Prinz im tiefsten Kerker des Schlosses lag, das auf einem hohen Felsen stand. Rings um das Schloss aber standen Wachen. Sie wartete bis zur nächsten Vollmondnacht, ging dann zum Fuss des Felsens und schlug mit dem goldenen Hammer der Mondfrau gegen den Felsen. Der öffnete sich, und ein Gang führte geradeswegs in den Kerker des Königssohnes.

 

Der war mit Ketten an den Felsen geschmiedet. Mit dem Hammer der Mondfrau berührte sie seine Ketten -so wurde er frei. Sie weckte ihn auf: «Sei still und folge mir!» 

Sie führte ihn durch die Felsen ins Freie hinunter zum Hafen. Aber dort gerieten sie in grosse Angst, denn sie wussten nicht, wie sie übers Meer kommen sollten. 

Da rieb sie den Stein des Abendsterns. Er kam sogleich und fragte: «Königstochter, was willst du?» 

 

«Wir wissen nicht, wie Wir nach Haus gelangen sollen.» 

Da liess der Abendstern eine silberne Barke erscheinen und, nachdem die beiden darin Platz genommen hatten, lenkte sie in Windeseile zurück zu ihrem heimatlichen Hafen. Die Königstochter sagte: «Ich kann dich nicht in Männerkleidern ins Schloss begleiten. Morgen werde ich kommen.» 

 

«Ja», sagte der Prinz, «morgen wirst du kommen und übermorgen wollen wir Hochzeit halten.» 

Doch die Dienerin neidete ihrer Herrin das Glück. Sie gab ihr ein Schlafmittel in den Wein, schlüpfte in ihre Kleider und lief zum Schloss. Als der Prinz sie sah, wurde er misstrauisch.

 

«Das ist nicht die, die mich befreit hat!» 

 

Der alte König befragte sie. Da ihr die Prinzessin alles erzählt hatte, wusste sie zunächst die richtige Antworten. «Und wo hast du in der Barke gesessen? An Backbord oder an Steuerbord?», fragte der Königssohn zuletzt. 

 

«An Steuerbord», meinte die Dienerin.

«Falsch!», lachte der Prinz. «Da sass ich!»

 

Man holte die Königstocher aus dem Haus der beiden Alten. Als sie hörte, was die Dienerin getan hatte, schickte sie diese ausser Land. Und am nächsten Tag wurde die Hochzeit mit grosser Freude gefeiert. 

 

Man erzählt sich, dass auch der Morgenstern und der Abendstern als Gäste bei dieser Hochzeit zugegen waren. 

 

Fassung: Heidi Christa Heim, nach: F: Karlinger und E. Laserer, Baskische Märchen, Köln, 1980.


Dieses Märchen habe ich wieder ganz zufällig gefunden und es hat mich nicht mehr los gelassen. Natürlich nehme ich im Moment jedes Märchen lächelnd zur Kenntnis, das einen Drachen beinhaltet :-). Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich es hier als Monatsmärchen vorstelle. Es passt für mich gut in die dunkle Jahreszeit. Ein Turm, der zu den Sternen reicht und Mond und Sterne, die helfend zur Seite stehen. Aber auch die Prophezeiung zu Beginn des Märchens und der König, der diese zu umgehen versucht und sie - vielleicht gerade dadurch - überhaupt erst wahr werden lässt? Dies lässt sich wunderbar aufs eigene Leben anwenden, oder? Wie eigentlich jedes Märchen natürlich! Aber gerade zu Beginn eines neuen Jahres - oder in unserem Fall Jahrzehntes - malen wir uns aus, wohin wir gelangen möchten, was wir erreichen wollen. Und so wie sich "schlechte" Prophezeiungen selbst erfüllen, da wir an sie glauben, genau so ist es auch mit den Sachen, die wir erreichen wollen.

 

Deshalb könnte man diese Geschichte zum Beispiel:

- nutzen um sich Ziele zu visualisieren und dann erste Schritte zu deren Erfüllung unternehmen

- Zeichnungen zu den verschiedenen Stationen herstellen und dann die Geschichte nacherzählen

- eine Sternwarte besuchen und mehr über Mond und Sterne erfahren

- Gold schürfen (kann man übrigens auch in der Schweiz machen!)

 

 

MärchenKoffer Nicole Krähenmann  | 8635 Dürnten ZH | brief@maerchenkoffer.ch