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Thorstein, der Königssohn (Island)

Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten einen Sohn, der hiess Thorstein. Er wuchs schneller als alle anderen und wurde bald
zu einem starken jungen Mann. Aber er war auch freundlich und bald weit und breit für seine Freigebigkeit bekannt. Seine Mutter tadelte ihn oft dafür, aber Thorstein blieb bei seiner Grosszügigkeit.

Als seine Eltern starben und ihn niemand am Geldausgeben hinderte, verschenkte er alles, was er hatte, ausser seinem treuen fuchsfarbenen Pferd und seinem Schwert. Doch als es nichts mehr bei ihm zu holen gab, verliessen ihn seine Freunde, und da erkannte er endlich, in welch traurige Lage ihn seine Freigebigkeit gebracht hatte.

Am Ende musste er das Königreich für ein wenig Gold und Silber verkaufen. Da lud er das Wenige, das er noch hatte, auf ein Packpferd, nahm sein Schwert und sein fuchsfarbenes Pferd und ritt los.

Lange ritt er durch eine einsame Gegend, wo er keinen Menschen traf, bis er am Abend zu einem Hof kam, Er klopfte an und bat den Bauern um ein Lager für die Nacht. Am nachsten Morgen sah er, wie der Bauer mit einer Schaufel einen Grabhügel aufgrub.

«Was tust du da?», wollte Thorstein wissen.

 

«Hier liegt ein Mann begraben, der mir zweihundert Taler schuldet. Er soll im Grab keine Ruhe finden.»

«Lass den Toten ruhen, ich werde seine Schulden zahlen», sagte Thostein und gab dem Bauern sein letztes Geld. Der Bauer bedankte sich und sagte: "Wenn du weiterreitest, so gehe an der nächsten Kreuzung nicht nach Osten."

 

Der Königssohn verabschiedete sich und ritt davon. Nicht lange, da kam er zur Wegkreuzung. Er erinnerte sich an die Worte des Bauern und schlug den Weg nach Westen ein. Doch schon nach kurzer Zeit dachte er: «Wer weiss, vielleicht warten im Osten mehr Abenteuer?» 

 

Flugs drehte er um und ritt nach Osten. Nach langer Zeit kam er am Meer zu einem prächtigen Hof, der halb in den Felsen gebaut war.
Thorstein band die Pferde fest, nahm sein Schwert mit sich und ging einen schmalen Felsenpfad zum Haus hinauf.

 

Es war kein Mensch zu sehen, aber die Tür war nicht verschlossen, und so trat er ein. Er fand verschiedene Zimmer, und in einem waren
sieben wunderschöne Betten, eines davon besonders prächtig.

In einem anderen Raum stand ein langer Tisch mit Tellern, aber auch hier traf er niemanden an. Schliesslich fand er den Vorratsraum, nahm dort verschiedene Speisen und verteilte sie auf die Teller. Dann ging er in das ZImmer mit den Betten und bereitete dort alles für die Nacht vor. Er war müde und hungrig, doch da ihm alles etwas unheimlich erschien, setzte er sich in einen dunklen Winkel und wartete.

 

Nicht lange darauf hörte Thorstein laute polternde Schritte, die tür wurde aufgestossen und einer rief: «Da ist jemand in unserem Haus. Schnell, wir wollen ihn packen und töten!»

 

«Halt!», rief da ein anderer, «seht, wie er die Teller gefüllt und die Betten gemacht hat. Da er so freundlich war, soll er sich zeigen und darf am Leben bleiben.»

Thorstein, der alles gehört hatte und nun die Männer sah und erkannte, dass es Riesen waren, stand zitternd auf. Die Riesen luden ihn zu sich an den Tisch ein und gaben ihm ein Bett zum Schlafen.


«Bleib doch bei uns», schlug der stärkste der Riesen vor, 
 «du kannst für uns kochen, dich um den Hof kümmern und wirst reich belohnt.»

Thorstein willigte ein und erhielt von den Riesen die Schlüssel zu allen Räumen, bis auf einen. Den Schlüssel zu diesem Zimmer trug der stärkste der Riesen an einer Schnur um den Hals.

Als die Riesen am nachsten Tag das Haus verliessen, öffnete Thorstein mit den Schlüsseln alle Zimmer, bis auf das eine. Er hätte gerne gewusst, was sich in der verschlosenen Kammer befand.

Bald bemerkte er, dass der grösste der Riesen die Kammer jeden Morgen und jeden Abend öffnete und wieder schloss. Eines Morgens aber fand er den Schlüssel zur geheimnisvollen Kammer unter dem Kopfkissen des Riesen, wo dieser ihn vergessen hatte.
Schnell eilte Thorstein in die Küche und drückte den Schlüssel in ein Stück Teig. 


Von diesem Abdruck machte er sich in den folgenden Tagen heimlich einen richtigen Schlüssel. Als dieser fertig war, schloss er die verbotene Tür auf und betrat eine dunkle Kammer. Thorstein zündete ein Licht an, und da sah er eine junge Frau, halb verhungert und an den Haaren gefesselt. Er band sie los, gab ihr zu essen und zu trinken und fragte: 
«Wer bist du udn wie bist du hierhergekommen?»


«Ich bin eine Königstochter, und der grösste der Riesen wollte mich heiraten. Weil ich ihn abgewiesen habe, hälter mich hier gefangen.», erzählte die junge Frau. «lch werde einen Weg finden, um dich zu befreien», versprach Thorstein. 

 

Bevor die Riesen zurückkehrten, band er ihr Haar wieder fest, damit niemand etwas bemerkte, und verschloss die Tür.

 

Am nächsten Tag sagte er zu den Riesen: «Ich will weiterreisen und wünsche als Lohn das, was ihr in der verschlossenen Kammer verborgen haltet.» Die Riesen baten ihn, noch länger zu bleiben, aber Thorstein liess sich nicht umstimmen und verlangte seinen Lohn. 

 

«Wir geben dir Gold und Silber, das ist mehr wert als das, was in der verschlossenen Kammer ist», sagten die Riesen. Aber Thorstein blieb dabei, so dass sie endlich nachgaben. Der grösste der Riesen nahm den Schlüssel, öffnete die Kammer und band die junge Frau los. Thorstein nahm sie an der Hand und führte sie zu seinen Pferden.

«Sei vorsichtig», warnte die Königstochter, «die Riesen werden dich verfolgen und versuchen, dich zu töten.»

Da legte Thorstein seine Rüstung an, nahm sein Schwert in die Hand und gemeinsam ritten sie los.

Nicht lange, da hörten sie die polternden Schritte der Riesen hinter sich. Schon hatten sie die beiden eingeholt. Thorstein kämpfte
mit seinem Schwert, so dass alle Riesen starben, bis auf den stärksten. Dieser warf sich auf den Königssohn und drückte ihn nieder.
Als die Königstochter sah, dass Thorstein sich nicht gegen den Riesen wehren konnte, nahm sie einen Dolch yon einem vder Getöteten und steiss ihn dem Riesen bis ins Herz. Dann half sie Thorstein, sich zu befreien. Sie beschlossen, zum Hof am Meer zurückzukehren und mit den Schätzen der Riesen au ein Schiff zu warten, das sie nach Hause bringen könnte.

 

Nach einigen Tagen sahen sie ein Schiff. Der Kapitän legte an und versprach, die beiden mitsamt ihren Schatzen in die Heimat der
Königstochter zu bringen. Der Kapitän hiess Raudur, und er erkannte die Königstochter sogleich. Denn der König hatte demjenigen,
der seine Tochter zurückbringen würde, eine hohe Belohnung und die Hochzeit mit seiner Tochter versprochen. Als das Schiff mitten
auf dem Meer war, liess er Thorstein in einem kleinen Boot auf dem Wasser aussetzen, und alle Schiffsleute mussten darüber schweigen.

Wahrend das grosse Schiff mit den Schätzen und der Prinzessin an Bord Richtung Königreich fuhr, trieb Thorstein in seinem Boot auf den Wellen hin und her. Auf einmal hörte er eine Stimme, die sprach: «Weisst du noch, wie du damals meine Schulden bezahlt und für meine Totenruhe gesorgt hast? Nun will ich dir helfen.
»

Wie von Zauberhand bewegte sich das Boot auf den Wellen und war lange vor dem grossen Schiff an Land. Da vernahm er noch einmal die Stimme, die sagte: «Geh an den Königshof und arbeite dort als Pferdeknecht. Du wirst sehen, dass alles gut wird, denn das, was du später unter den Futterkrippen findest, wird dir gehören.»

Thorstein machte sich auf den Weg zum Königsschloss und bot seine Dienste als Pferdeknecht an.

Gross war die Freude, als das Schiff an Land anlegte und der Kapitän dem Konig seine Tlochter zuriickbrachte. Dem Kapitän wurde eine baldige Hochzeit versprochen und das Fest wurde vorbereitet.

In der Zwischenzeit arbeitete Thorstein im Stall, wohin auch seine Pferde geführt wurden. Doch sein fuchsfarbenes Pfer liess keinen anderen als Thorstein an sich heran. Auch die Königstochter hörte von dem fuchsfarbenen Pferd und als sie den königlichen Stall betrat und Thorstein erkannte, gab es ein freudiges Wiedersehen. 

 

Als der Tag der Hochzeit kam, sprach die Königstochter zu ihrem Vater: «Ich werde erst heiraten, wenn der Pferdeknecht uns allen seine Geschichte erzählt.» Der König willigte ein, man holte Thorstein und er begann zu erzählen. So kam Raudurs Verrat ans Licht. Der Kapitän wurde mit dem Tod bestraft und Thorstein mit der Königstochter verheiratet. 

 

Es gab ein grosses Fest, und später fand Thorstein unter den Futterkrippen der Pferde grosse Schäte mit Gold und Silber. 

 

So lebten sie glücklich und zufrieden und als der König starb, bestieg Thorstein den Thron. Er war ein guter und grosszügier König, teilte seine Schätze mit allen und wurde bis ins hohe Alter von allen geliebt. 

 

Quelle: Fassung D. Jaenike, nach; C. J. Poestion, Isländische Märchen, Wien 188


Wieder einmal ein sehr "reichhaltiges" Märchen. Der grosszügige Königssohn, der von seinen Freunden verlassen wird, als er nichts mehr zu geben hat, stimmt mich aber auch nachdenklich. Er aber gibt nicht auf, folgt seinem Weg und besonders seinem Herzen. Diese Geschichte zeigt dann auch klar auf, wie lohnenswert es sein kann sich selbst zu vertrauen und sich selbst zu bleiben. Es

 

Dieses Märchen eignets ich sicher, um mit Kindern:

- Schlüssel aus Brotteig zu kneten und backen

- darüber sprechen, was wahre Freunde sind 

 - alternative Abenteuer erfinden (was wäre, wenn Thorstein nach Westen geritten wäre?)

 

 

MärchenKoffer Nicole Krähenmann  | 8635 Dürnten ZH | brief@maerchenkoffer.ch