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Das Herz der kleinen grünen Meerkatze (Tansania)

Er wuchs auf einer Klippe am Meer. Er war riesig, der Baum. 

Seine mächtige Krone warf zur Hälfte seinen Schatten über das Land und zur Hälfte über das Wasser. Dieser Baum war die Heimat einer kleinen Grünen Meerkatze. Nur selten musste sie den Baum für kurze Zeit verlassen. Hier fand sie gegen ihren Hunger genügend süsse Früchte. Sie waren so saftig, dass sie damit auch ihren Durst stillen konnte. Das Leben war gut und ohne Aufregungen. 

 

Eines Tages sah sie im Meer unter ihrem Baum einen riesigen Tigerhai seine Runden drehen. Und sie sah, wie der Hai nach den Früchten schnappte, die heruntergefallen waren und im Wasser schwammen. «Das habe ich noch nie gesehen: Ein Hai frisst Früchte! Was ist denn mit dem los?», überlegte die kleine Grüne Meerkatze und warf eine Frucht direkt vor das Maul des Hais. Schwupp hatte er sie gefressen, blinzelte nach oben und rief: «Danke, liebe Meerkatze. Diese Früchte habe ich besonders gerne. Es fallen viel zu wenige ins Wasser.» 

 

Die kleine Grüne Meerkatze amüsierte sich darüber, warf noch ein paar Früchte hinunter und lachte, als der Hai versuchte, diese schon in der Luft zu fangen. Dieses Spiel machte beiden viel Spass - und so ging das nun jeden Tag. 

 

Wenn dann beide satt waren, setzte sich die kleine Grüne Meerkatze auf einen der untersten Äste über dem Wasser, und der Hai liess sich in kleinen Kreisen faul treiben. Dabei erzählten sie sich aus ihrem Leben und allerlei Alltägliches. 

 

Eines Tages sagte der Hai: «Liebe kleine Grüne Meerkatze. Ich würde dir gar zu gerne ein Geschenk machen als Dankeschön für die vielen süssen Früchte. Deshalb habe ich lange überlegt und schlage dir vor, einmal auf meinen Rücken zu klettern und durch die Wellen zu reiten.» 

 

«Puuuh, mein Lieber», lachte die kleine Grüne Meerkatze, «schon der Gedanke, von den Wellen nass zu werden, lässt alle meine Haare zu Berge stehen. Ich habe viel zu viel Angst vor dem Wasser. Ich kann nicht schwimmen und würde ertrinken. Ich bleibe lieber in meinem Baum, wo ich hingehöre.» «Du bist ja eine kleine Grüne Angstkatze, antwortete der Hai, «das kann ich nicht glauben. Es wäre doch ein richtiges Abenteuer für dich. Du könntest deinen Freunden davon berichten. Sicher wärst du die erste Grüne Meerkatze, die auf einem Hai reiten durfte Ausserdem würde ich so schwimmen, dass mein Rücken immer über den Wellen bleibt und du nicht nass wirst. Komm, sei keine Angstkatze.» 

 

«Ich muss darüber schlafen», entgegnete die kleine Grüne Meerkatze, kletterte höher, setzte sich in eine Astgabel und dachte scharf nach. Was ihr der Hai gesagt hatte, war verlockend, und am nächsten Morgen war sie richtig zappelig vor Aufregung.

 

«Also gut», begrüsste sie den Hai, «ich bin einverstanden, wenn du ganz langsam schwimmst und ich mich festhalten darf. »

 

«Hey! Gratuliere! Du bist mutig: Ich bewundere dich und werde sehr, sehr vorsieht sein. Es soll dir ja Freude machen», sagte der Hai.

 

Mit einigem Herzklopfen sprang die kleine Grüne Meerkatze auf den Rücken des Hais, und sie erlebte einen traumhaften Ritt. Knapp über den Wellen glitten sie dahin. Sie flogen fast durch die sanfte Dünung. Doch die Klippe und der Baum wurden immer kleiner. Da bat die kleine Grüne Meerkatze: «Bitte schwimm wieder zurück zu unserem Baum, solange man ihn erkennen kann, sonst verirren wir uns noch in dem vielen Wasser. Die Reise war toll, aber es soll genug sein für heute.» Da sagte der Hai: «Es tut mir leid, mein Freund. Wir können nicht mehr zurück. Ich muss dir etwas gestehen. Das Volk der Haie braucht dich ganz dringend. Ich muss dich zu ihm bringen. Ich wurde geschickt, um dich zu holen. Unser Fürst, der mächtigste und grösste Hai aller Haie, ist schwer krank. Unser Nganga weiss nur noch ein Heilmittel, das ihn vor dem Tod retten kann. Unser Fürst muss dringend das Herz einer Grünen Meerkatze essen.»

 

Oje! Dieses Herz rutschte der kleinen Grünen Meerkatze bis in die äusserste Schwanzspitze. Sollte das ihr Ende sein? Sie biss die Zähne zusammen, um nicht vor Angst laut zu schreien. «Bist du erschrocken? Du sagst ja gar nichts?», fragte der Hai. 

 

«Oh ja, ich bin erschrocken, lieber Hai. Das hättest du mir am Anfang sagen sollen. Weisst du denn nicht, dass die Grünen Meerkatzen ihr Herz jeden Morgen beim Aufwachen aus der Brust nehmen, sorgsam in einem Astloch verstecken und mit Blättern zudecken, damit es ja nicht beschädigt wird? » «Nein, das wusste ich nicht. », gestand der Hai. «Jetzt ist alles umsonst.»

 

«Aber Hai!», rief die kleine Grüne Meerkatze und tat fröhlich, während alles in ihr zitterte. «Nichts ist umsonst. Euer Fürst tut mir schrecklich leid. Ich möchte ihm helfen und ihm mein Herz schenken. Wir müssen es nur holen. Schwimm zurück, bevor es Nacht wird.»

 

Der Hai versuchte zu überlegen, aber nur ein Gedanke drehte sich in seinem Kopf: «Du darfst ohne Herz nicht nach Hause kommen.» Und dann drehte er um und schwamm zurück.

 

Die kleine Grüne Meerkatze hielt den Atem an, bis sie wieder unter ihrem Baum waren. Mit einem Jubelschrei sprang sie auf einen der unteren Äste und noch ein wenig höher und blieb verschwunden.

 

Der Tigerhai wartete, wartete und wurde immer ungeduldiger und rief: «Meerkatze? Hast du dein Herz gefunden? Dauert es noch lange?»

 

Die Antwort waren zwei Fäuste voller fauler Früchte, die mit einem Platsch mitten auf seiner Schnauze landeten und zermatschten. Dabei rief die Grüne Meerkatze: «Tschüss, du dummer Fisch! Mein Herz ist hier, mitten in meiner Brust. Dort war es schon immer und dort soll es auch noch eine Weile bleiben. Du bekommst es nicht. Such dir einen anderen Affen. Unsere Freundschaft ist zu Ende!»

 

Der grosse Baum hallte wider vom Geschnatter und Gelächter der kleinen Grünen Meerkatze. Sie hat diesen aufregenden Tag nie vergessen und eine lange Geschichte daraus gemacht, in der sie all ihren Freunden und verwandten erzählt, wie sie einen riesigen Tigerhai hinters Licht geführt hatte.

 

Quelle: N. Greaves / R. Wehrli-Oehlker (Übers.): Wie Stachelschwein zu seinen Stacheln kam. Tiermärchen aus Afrika, Bd. 2, Verlag Baeschlin Bücher, Glarus 2008.


Auf den ersten Blick wirkt diese Geschichte sehr amüsant und man freut sich über die ungleiche Freundschaft. Trotzdem vergisst man - anders als die Meerkatze - beim Lesen nicht, dass es sich um einen Hai handelt und man fragt sich schon, was dieser wohl für Absichten hat. Dann kommt die dramatische Wendung und wir erleben, wie die Grüne Meerkatze es trotz ihrer Angst aber schafft sich selbst zu retten...durch ihren Mut, ihre Klugheit und ihr schnelles Handeln.

 

Diese Geschichte eignet sich sicher dazu mit Kindern:
- das Thema Vertrauen zu besprechen: Wem vertraue ich? Wie merke ich, ob es jemand ehrlich mit mir meint?
- einen frischen Obsalat herzustellen und zu essen

- Herzkekse zu backen und zu verschenken

 

 

MärchenKoffer Nicole Krähenmann  | 8635 Dürnten ZH | brief@maerchenkoffer.ch