Vor vielen Jahren lebte ein Fischer namens Angus in einer kleinen Hütte am Ufer des Don. Er war ein einsamer Mann. Jeden Tag ging er in der Flussmündung fischen. Einige Fische behielt er für sich, aber die meisten verkaufte er.
Eines Nachts konnte Angus nicht schlafen. Er hörte ungewöhnliche Geräusche von der kleinen Insel im Fluss und machte sich leise auf den Weg zum Flussufer. Er versteckte sich zwischen den Binsen und Weiden, die dort wuchsen. Der Mond war hell und beleuchtete die Szene vor ihm.
Auf der Insel konnte er einen Kreis Mädchen sehen, die fröhlich tanzten. Ihre Körper glänzten im Mondlicht und seltsam wilde Musik erfüllte die Luft. Angus starrte voller Staunen. Er war ganz verzaubert.
Die Mädchen waren mit Tanzen beschäftigt und sahen die dunkle Gestalt nicht, die durch das flache Wasser watete und sich auf die Sandbank schlich. Dort hatten sie ihre Felle abgelegt, denn es waren Selkies, Robbenmädchen, die den Schein des Vollmonds nutzten, um die Nacht in Menschengestalt durchzutanzen.
Angus bewegte sich vorsichtig auf dem nassen Sand und schnappte sich eines der Felle. Genauso leise glitt er den Weg zurück, den er gekommen war, und als er zu Hause ankam, verstaute er das Fell sorgfältig in den Dachsparren seiner Hütte,
Als die Dämmerung anbrach und sich der Himmel zu erhellen begann, nahmen die Selkies ihre Felle, zogen sie sich über, und eine nach der anderen nahm wieder ihre wahre Gestalt an und kehrte als Robbe ins Meer zurück. Bis auf eine. Sie irrte herum, suchte und suchte ihr Fell und konnte es nicht finden. Ihr Rufen und Jammern liess ihre Schwestern zurückschwimmen, aber keine konnte ihr helfen. Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, legte sich das verzweifelte Mädchen hin und weinte, als würde ihr das Herz brechen,
In diesem Moment rief Angus von seiner Hütte über das Wasser hinweg. Das Mädchen schaute panisch auf und schreckte vor dem menschlichen Ruf ängstlich zurück. Doch seine Stimme war sanft und beruhigend. Mit einer Decke in der Hand machte er sich auf den Weg zu dem Mädchen, während er die ganze Zeit freundliche Worte zu diesem verängstigten Meerwesen murmelte. Er wickelte die Decke um den zitternden Körper der Selkie und führte sie zu seiner Hütte.
Schon bald erzählte man sich im Dorf, dass Angus mit einer Frau zusammenlebte. Es dauerte auch nicht lange, bis ein Kind zur Welt kam, dann noch eines und noch eines, bis die kleine Behausung bis unters Dach belegt war.
Und wie ging’s dem Selkie-Mädchen? Sie vergass nie, woher sie kam. Jede Nacht, ob das Wasser ruhig oder rauh war, sass sie am Flussufer, sang ihre wilden Robbenlieder und trauerte um den Verlust ihres Lebens als Robbenmädchen.
Angus liebte sie. Die Kinder waren wild, dunkelhaarig und wunderbare Schwimmer. Die junge Frau war bei den Einheimischen weitum bekannt und sehr beliebt, was für eine Fremde eher ungewöhnlich war. Aber sie kochte die köstlichsten Fische und Meeresfrüchte und schmückte ihr Zuhause sehr exotisch mit Muscheln und anderen Schätzen vom Meeresgrund.
Spät am Abend, wenn sie am Ufer sass, kamen manchmal ihre Schwestern herbei, um aus der Sicherheit des Wassers für sie zu singen. Aber keine wagte es, ihr Fell abzulegen und ihre menschliche Form anzunehmen, aus Furcht, ebenfalls auf dem Land gefangen zu bleiben.
Jahre später, an einem schönen Spätherbstmorgen, nahm Angus seine Frau beiseite. Dje Fische würden immer weniger und er müsse einen Platz auf dem Boot eines anderen Mannes annehmen, damit er seine wachsende Familie ernähren könne. Die Reise werde weit hinaus aufs offene Meer führen und lange dauern. Er werde erst in ein paar Wochen nach Hause zurückkehren. Traurig verabschiedete er sich von seiner Frau und den Kindern.
Die Zeit verging und die Winterkälte setzte allmählich ein. Die beiden älteren Kinder, fähige Jungs, waren eines Tages damit beschäftigt, das Schilfdach von innen zu reparieren, als einer plötzlich aufschrie. Er hatte etwas zwischen den Sparren entdeckt. Er kam unbeholfen die Leiter hinunter, weil er etwas Schweres, in Öltuch gewickelt, in den Armen trug. Die Familie drängte sich um ihn, als er das Bündel auf dem Boden entknotete und aufmachte.
Als die Mutter sah, was es war, stiess sie einen Schrei aus und sank zu Boden. Denn dort, so frisch und nass wie an dem Tag, an dem sie es verloren hatte, lag ihr Robbenfell. Sie streichelte es, hielt es dann an sich und atmete den vertrauten Duft von Salz und Meer ein. Sie weinte. Anfangs waren es Tränen der Freude, aber als ihr die Erkenntnis von der Täuschung und dem Verrat ihres Mannes dämmerte, wurde ihr Weinen unkontrolliert und vermischte sich mit Wut, weil ihr willentlich all die Jahre ihr wirkliches Leben vorenthalten worden war.
Die Kinder konnten sie nicht trösten und auch sie weinten, unfähig, den Kummer ihrer Mutter zu begreifen. Als sie schliesslich nicht mehr weinen konnte, legte sie ihr kostbares Fell hin, steckte ihre Füsse in seine vertrauten Falten und schwor, es nie wieder aus den Augen zu lassen.
Sie nahm ihre Kinder in die Arme und erzählte ihnen leise ihre Geschichte noch einmal. Sie war ihnen vertraut, aber als die Kinder mit grossen Augen der Erzählung lauschten wie ihre Mutter aus dem Meer gekommen wa begann die Wahrheit in ihren Köpfen aufzugehen. Sie dachten immer, diese Geschichte sei nur eine Gute-Nacht-Geschichte gewesen, aber nun begann die Angst, ihre jungen Herzen zu ergreifen.
Denn sie konnten den Hunger und das Verlangen in der Stimme ihrer Mutter hören. Das Jüngste hielt sie fest und jedes der Kinder flehte die Mutter an, dazubleiben und nicht fortzugehen, aber nichts konnte sie davon abbringen. Sie umarmte die Kinder und versicherte ihnen, dass sie zurückkehren, dass sie sie nicht vergessen würde, aber die Kinder spürten die Endgültigkeit des Abschieds. Am Flussufer zog sich die Selkie ihr Fell über. So geschmeidig, wie Robben es in ihrem Element sind, glitt sie unter Wasser, nur um einen Moment später wieder an der Oberfläche aufzutauchen, ihr Kopf glatt und dunkel im kalten, hellen Sonnenlicht. Trotz des Weinens und Flehens ihrer Kinder am Ufer tauchte sie erneut in die Tiefen des Flusses und kam nicht wieder nach oben.
Als Angus in der folgenden Woche zurückkehrte, war seine Hütte nicht mehr das Zuhause, das er verlassen hatte. Die bittere Traurigkeit über den Verlust der Mutter durchzog ihr ganzes Leben, und nichts konnte ihre Einsamkeit lindern. Jeden Morgen, wenn die Kinder zum Wasser gingen, um einen Blick auf ihre Mutter zu erhaschen, fanden sie immer drei silberne Fischeam Flussufer liegen. Und wenn die Kinder im Fluss schwammen, schloss sich eine Robbe wie ein Schatten ihrem Spiel an, und für eine Weile spürten sie die Freude über die Anwesenheit ihrer Mutter. Aber nie wıeder sahen sie ihre Mutter in ihrer menschlichen Gestalt.
Fassung A. Spinnler-Dürr, nach: G. Banks, S. Blackhall, Aberdeenshire Folktales, Cheltenham 2013
Dies ist eine Geschichte, die sich weniger für Kinder eignet, da sie kein "gutes" Ende hat. Zumindest, wenn man es aus den Augen der Kinder der Selkie betrachtet. Und doch wollte ich unbedingt eine Selkie Geschichte in diese Sammlung aufnehmen.
Selkie Geschichten kommen in vielen Ländern des Nordens vor und nur selten haben sie ein "glückliches" Ende. Und doch habe ich diese Geschichte ausgewählt als Monatsmärchen. Dieses Märchen spricht davon, dass jemand ein Leben lebt, das nicht jenes ist, das die Person für sich selber wählen würde. Dass ihr ein "Kleid" aufgezwungen wird (oder in diesem Fall gestohlen wird). Etwas, das auch bei uns passieren kann. Es ist nicht einfach sich sein Leben so zu gestalten, wie es für einen selbst stimmig ist, wenn die Gesellschaft etwas anderes als "erfolgreiches Leben" definiert.
Deshalb heute einmal eine Geschichte für uns Erwachsene... und folgende Fragen an uns selbst:
- Gibt es Bereiche in meinem Leben, in denen ich das Gefühl habe "nicht in meinem Element" zu sein?
- Habe ich etwas aufgegeben, das eigentlich zu mir gehört? Was und weshalb?
- Gibt es etwas, das mich "ruft"?
- Was ist mein "Robbenfell", etwas, das mich lebendig macht?
- Was wären erste kleine Schritte, mich wieder damit zu verbinden?